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Dr. habil. Rüdiger Singer, neuer Senior Fellow am TCDH im Interview mit dem Trier Center for Digital Humanities
20.03.2023 | General
TCDH: Am Trier Center for Digital Humanities arbeiten Wissenschaftler:innen aus verschiedenen Bereichen der „Humanities“ zusammen: Was ist Dein Profil, was sind Deine Grundinteressen?
Dr. habil. Rüdiger Singer: Ich komme aus der Literaturwissenschaft, habe mich aber immer schon für literarische Texte interessiert, die ihre medialen Grenzen überschreiten. Anders gesagt: Mich fasziniert besonders die performative und intermediale Dimension von Literatur. So habe ich – nach einem Germanistik- und Geschichtsstudium in Bamberg und Berlin – an der TU Berlin promoviert über Johann Gottfried Herders Konzept von Poesie als „Nachgesang“, d.h. als Literatur, die zwar gelesen wird, aber Qualitäten von Oral Poetry nachahmen soll. In Göttingen war ich Wissenschaftlicher Mitarbeiter von Prof. Dr. Ruth Florack und beschäftigte mich mit galanter Literatur, das heißt vor allem mit Romanen, die das französische Verhaltensideal der Galante Conduite propagierten. Dabei geht es nicht zuletzt um Literatur und Rhetorik, ein weiteres Grundinteresse. Habilitiert habe ich mich dann in Neuerer Deutscher und Vergleichender Literaturwissenschaft über die Evokation von Schauspielkunst in Texten und Bildern. Denn seit dem 18. Jahrhundert begann man, Schauspielerei als „Kunst“ ernst zu nehmen – und zu bedauern, dass sie so vergänglich war, lange vor Erfindung des Films. Man beschrieb sie also, nur dass man so nicht zeigen konnte, wie die Schauspieler:innen aussahen. Oder man produzierte Bilder von ihnen, die aber stumm und starr waren. Meine Leitfrage war: Wie versuchte man trotzdem, lebendige Szenen in der Fantasie der Lesenden oder Betrachtenden zu erzeugen? Seit einiger Zeit interessiert mich nun auch das Zusammenspiel von Wort und Bild in Gattungen wie Comics, Covers oder Pressekarikaturen.
TCDH: Was findest Du am Forschungsstandort Trier und dem TCDH so interessant und was war Deine Motivation für eine Bewerbung?
Dr. habil. Rüdiger Singer: Alles begann mit einer konkreten Idee: Es gibt einen großen Schatz von bereits digitalisierten europäischen Satirezeitschriften des 19. und frühen 20 Jahrhunderts, und ich wollte ihn gerne im Rahmen meines Forschungsvorhabens „Rhetorik der Pressekarikatur“ auf bestimmte Muster hin untersuchen. Es geht darum, „rhetorische Profile“ sichtbar zu machen; konkrete Fragen sind zum Beispiel: Wie wird in konservativen und sozialdemokratischen Zeitschriften die Arbeiterschaft bzw. das „Proletariat“ dargestellt? Oder: Stimmt meine These, dass sich deutsche Karikaturen vergleichsweise stark an älteren Traditionen orientieren und eher Reime verwenden, während französische sich stark am Modell komödiantischer Szenen orientieren und eher Mini-Dialoge verwenden? Um solche ,Patterns der Pressekarikatur‘ sichtbar zu machen, muss man wissen, wie man Text-Bild-Kombinationen im großen Stil annotiert und auswertet, man braucht eine geeignete digitale Infrastruktur und ein Forschungsumfeld, in dem wirklich fließend „D and H gesprochen“ wird.
TCDH: Klingt gut – aber lässt sich dieser Zusammenhang von „Digital“ and „Humanities“ in diesem Fall vielleicht etwas konkretisieren?
Dr. habil. Rüdiger Singer: Nehmen wir das Beispiel Gedichte. Als Teil von Karikaturen verweisen sie zurück auf die Tradition des humanistischen Emblems, das aus Überschrift, Bild und kurzem Gedicht bestand und die Struktur der meisten satirischen Flugblätter prägte. Eine Pressekarikatur mit Gedichtanteil steht also in dieser Tradition, ist dezidiert traditionell. Dieser Zusammenhang gehört zunächst in den Bereich des „H“, der Humanities, nämlich der Literaturwissenschaft und auch der Sprach- und Geschichtswissenschaft. Sie alle sind am TCDH stark vertreten. Nun ist meine Frage aber: Wie stark ist der Anteil solcher traditionellen Karikaturen in bestimmten Zeitschriften und, weiter gefasst, in bestimmten nationalen Traditionen wie der deutschen, der französischen, der britischen? Damit sind wir im Bereich des „D“ und müssen herauskriegen: Wie findet man Gedichte im Korpus der digitalisierten Satirezeitschriften?
Es gibt bereits einen OCR-Volltext, der immerhin all jene Textanteile des Korpus repräsentiert, die nicht in die Bilder selbst integriert sind. Da die Gedichte typischerweise außerhalb des Bildes stehen, wäre der Volltext durchaus aussagekräftig, und eine Frage, die wir früh diskutiert haben, war: Kann man Parameter finden, die es „dem Computer“ schon auf dieser Grundlage möglich machen, Gedichte maschinell zu identifizieren innerhalb der übrigen Textmasse? Ich vermutete zunächst, das sei kein großes Problem, wurde aber von den „D“-Expert:innen eines anderen belehrt. Wir haben uns zunächst einmal entschieden, dass Gedichtanteile in den Zeitschriften, mit denen wir beginnen, nicht automatisch, sondern manuell eingetragen werden, zusammen mit weiteren Parametern, die noch ausgewählt werden müssen. Dennoch bleibt langfristig die Frage relevant, ob auf dieser Grundlage eines Tages mit Hilfe von maschinellem Lernen eine Erkennung von Gedichten auch in nicht-annotierten Korpora möglich ist, und zwar in Kombination mit Merkmalen wie Versmarkierung durch Reim oder Großschreibung am Versanfang. Das wäre dann auch ein Fortschritt mit Blick auf literaturwissenschaftliche Studien, die nichts mit meinem Projekt zu tun haben.
Fazit: Von meinem Interesse an Rhetorik geleitet, kann ich in diesem Fall am TCDH erkunden, welche Optionen des Distant Reading es – hier im Hinblick auf Gedichterkennung – in einem umfangreichen Korpus gibt; andererseits ist die von mir eingebrachte Fragestellung geeignet, literaturwissenschaftlich relevante digitale Suchmethoden voranzutreiben.
TCDH: Nun hast du aber gesagt, dass es zunächst vor allem um eine Modellierung des Korpus Satirezeitschriften geht, die auf manuelle Eintragung setzt. Worum geht es dabei, wie sieht es konkret aus und warum ist dafür gerade das TCDH das richtige Umfeld?
Dr. habil. Rüdiger Singer: Es geht im Grunde um eine Edition, und die soll nicht nur Möglichkeiten statistischer Auswertung bieten, sondern vor allem Optionen des erweiterten, DH-gestützten Close Reading: Wer online eine Karikatur anschaut, soll in einen Modus schalten können, der es ihm oder ihr ermöglicht, bestimmte Parameter zu erkennen. Die Nutzenden sollen die Möglichkeit haben, sich über deren rhetorische Relevanz zu informieren und auf dem Bildschirm Vergleiche mit anderen Karikaturen anzustellen, die in bestimmter Hinsicht ähnliche Merkmale aufweisen – also zum Beispiel die emblematische Struktur, aber auch die Darstellung der Arbeiterschaft als weibliche Allegorie.
Für eine solche Unternehmung hat das TCDH bereits sehr bewährte Tools im Angebot. In Zusammenarbeit mit dem Servicezentrum eScienes wird die virtuelle Forschungsumgebung FuD permanent weiterentwickelt, mit der man Texte und Bilder analysieren kann. Die Erfassung und Annotation geschieht benutzerfreundlich mit Transcribo. Ein Editionswerkzeug, was ebenfalls von euch entwickelt bzw. weiter entwickelt wird. Transcribo ist zwar, wie der Name verrät, zunächst als Werkzeug gedacht, mit dem die Transkription von Texten unterstützt wird, und wird dafür prominent in der historisch-kritischen Schnitzler-Edition eingesetzt. Aber das Werkzeug eignet sich eben auch zur Annotation von Wort-Bild-Hybriden wie etwa den Collagen von Kurt Schwitters und ist dementsprechend auch für die geplante digitale Edition seiner Merz-Hefte vorgesehen (Kurt Schwitters' intermediale Netzwerke der Avantgarde). Vor diesem Hintergrund ist auch mein Karikaturen-Projekt hier auf großes Interesse gestoßen. Dann gab es die Möglichkeit, mich auf ein Stipendium zu bewerben, und zum Glück habe ich es geschafft. Und hoffe nun, daraus einen erfolgreichen DFG-Antrag zu machen.
TCDH: Karikaturen, die bewusste Übertreibung in Wort und Bild oder ein bildkünstlerisches und literaturwissenschaftliches Phänomen, warum gerade dieser Forschungsgegenstand?
Dr. habil. Rüdiger Singer: Als Literaturwissenschaftler sind mir zunächst einmal viele Parallelen und Zusammenhänge zwischen Karikatur und Literatur aufgefallen. Zum Beispiel habe ich in meiner Habilitation gezeigt, dass Beschreibungen von Schauspielkunst zuerst Verspottungen von Schauspiel-Pfusch waren, das heißt sie übertrieben die Mätzchen schlechter Schauspieler*innen oder eines veralteten Schauspielstils, in Parallele zu grafischen Karikaturen. Allerdings gehe ich mit meinem Projekt doch recht deutlich über die Literaturwissenschaft hinaus und in die Rhetorik hinein.
TCDH: Wieso „Rhetorik“? Was verstehst Du darunter?
Dr. habil. Rüdiger Singer: Ich verstehe Rhetorik mit Aristoteles als die Kunst, Meinungen zu beeinflussen oder anders formuliert: als Technik der Persuasion. Traditionell interessiert sich Rhetorik für Reden, das heißt für persuasive Textstrategien und auch ein bisschen für Vortragstechnik. Dann gibt es noch die sehr viel jüngere Bildrhetorik – aber die konzentriert sich allzu oft auf ,reine‘ Bilder ohne Text, sofern es das überhaupt gibt. Deshalb macht sie meist einen Bogen um Bilder, die auf einer gemeinsamen ,Sehfläche‘ mit Bildern interagieren. Dabei sind wir doch spätestens seit der Erfindung von Holzschnitt und Buchdruck von Bild-Hybriden umgeben, von Flugblättern der Reformationszeit bis zu Memes!
TCDH: Aber Du untersuchst nicht diese Gattungen, sondern Karikaturen...
Dr. habil. Rüdiger Singer: Die politische Karikatur ist aus zwei Gründen ein Paradebeispiel für Wort-Bild-Rhetorik: Erstens ist sie besonders klar persuasiv, im Englischen heißt sie sogar opinion cartoon. Zweitens verbindet sie sich mit den verschiedensten Medien und Text-Bild-Gattungen, etwa dem Flugblatt oder dem Plakat – und seit dem frühen 19. Jahrhundert mit der modernen Massenpresse. Diese Form der politischen Karikatur, die Pressekarikatur, interessiert mich besonders.
TCDH: Was ist geplant in diesem Jahr?
Dr. habil. Rüdiger Singer: Im Herbst soll es einen Workshop geben, zu dem ich Expert:innen aus unterschiedlichen Bereichen einlade, von der Geschichts- und Politikwissenschaft über die Linguistik bis zur Kunstgeschichte, Medienwissenschaft, Bibliothekswissenschaft und natürlich den Digital Humanties – aber auch mindestens eine Karikaturistin oder ein Karikaturist soll dabei sein. Diese Expert:innen werden aus ihrer Perspektive über einige spezielle Karikaturen sprechen, und dann diskutieren wir gemeinsam über zwei bis drei besonders ergiebige Karikaturen. Es wird also ein Workshop im eigentlichen Sinn, und meine Leitfrage an die Kolleg:innen ist: Welche Patterns würden Sie annotieren und zu welchen Forschungsfragen könnte das in Ihrem Bereich führen? Denn das Projekt einer ,Rhetorik der Pressekarikatur‘ kann nur interdisziplinär sein.
Neben der Organisation werde ich zu bloggen anfangen und an mehreren Aufsätzen arbeiten, insbesondere einer Skizze, die grundsätzlich zeigen soll, was es heißt, Pressekarikaturen mit rhetorischen Analysewerkzeugen zu interpretieren und welches interdisziplinäre Potenzial darin steckt. Dieser Aufsatz soll online erscheinen und ein Work in Progress sein: Man soll ihn kommentieren können, und er wird sich weiterentwickeln in Auseinandersetzung mit den Kommentaren und auch mit den Ergebnissen des Workshops. Ich strecke meine Fühler auch nach interessierten Kolleg:innen in Trier aus und bin sehr dankbar, dass ich das Thema ,Patterns der Pressekarikatur‘ schon in einer Posterpräsentation des Trier Center for Language and Communication (TCLC) diskutieren konnte mit Kolleg:innen aus der Linguistik und Medienwissenschaft. Anfang des Sommersemesters setze ich das fort in einem Vortrag, zu dem TCLC und TCDH gemeinsam einladen...
TCDH: Siehst Du Dich vor allem als Forscher oder ist Dir auch die Lehre wichtig?
Dr. habil. Rüdiger Singer: Ich unterrichte leidenschaftlich gern. Besonders befriedigend finde ich es, wenn ich Studierende dazu bringen kann, ein bisschen „out oft the box“ zu denken, wie es mal in einer Evaluation hieß. Zum Beispiel habe ich während meiner fünf Jahre als DAAD-Professor in den USA versucht, Studierende zum Nachdenken darüber zu bringen, was als „typisch deutsch“ gilt – und es vielleicht nie war. Und habe dabei selbst viel über ihre und meine Kultur gelernt. Meine Zeit in den USA hat mich auch dazu inspiriert, mich intensiver mit Comics auseinanderzusetzen, weil sie gerade für Nicht-Muttersprachler ein sehr motivierendes Medium sind, ihre Deutschkenntnisse zu vertiefen und anschaulich etwas über deutsche Kultur und Geschichte zu lernen.
TCDH: Unterrichtest Du auch an der Universität Trier?
Dr. habil. Rüdiger Singer: Ich hatte bereits das große Vergnügen, mit Claudine Moulin, Sprachhistorikerin und Co-Direktorin des TCDH, ein Seminar über Flugblätter und Flugschriften anzubieten. Satirische Flugschriften waren dabei prominent vertreten, und wir haben verblüffende Parallelen mit Pressekarikaturen des 19. Jahrhunderts entdeckt, über die wir einen Aufsatz schreiben wollen. So mag ich es am liebsten – Forschung und Lehre interdisziplinär und ineinander übergehend. Nächstes Semester werde ich allerdings etwas machen, das wenig mit Karikaturen zu tun hat, aber auch ein Wort-Bild-Herzensthema ist: ein Bachelor-Seminar mit dem Titel „Ethno-Graphic-Novels: Kulturbegegnungen in Comics“.
TCDH: Wie würdest Du Dich mit 3 Worten beschreiben?
Dr. habil. Rüdiger Singer: Hmm... Wenn es nur drei Worte sein dürfen, konzentriere ich mich mal auf Positives: neugierig, kreativ, kooperativ.
TCDH: Bist Du eher der Teetrinker oder der Kaffeegenießer?
Dr. habil. Rüdiger Singer: Das ist wie mit Hunden und Katzen, beide haben ihren eigenen Charme. Allerdings habe ich festgestellt, dass Kaffee mich morgens nur fünf Minuten munter macht und dann ziemlich müde. Deshalb beginnt der Tag meist mit Tee; am TCDH kommt aber irgendwann nachmittags garantiert der Moment, wo ich diese großartige Kaffeemaschine im Gemeinschaftsraum besuche.
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- Singer_Poster Pressekarikatur.pdf (1.19 MB)