Willkommen im Team, Benjamin!

Interview mit PD Dr. Benjamin Gittel, der seit Oktober 2023 mit einer Heisenberg-Stelle Teil des TCDH-Teams ist.

08.04.2024 | Allgemein

Vor wenigen Monaten begrüßten wir PD Dr. Benjamin Gittel bei uns im Team. Er hat sich in Allgemeiner und Neuerer Deutscher Literaturwissenschaft an der Universität Göttingen habilitiert und war zuletzt wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Deutsche Philologie der Universität Göttingen und Ko-Projektleiter zweier interdisziplinärer Forschungsprojekte unter dem Dach „MONA – Modes of Narration and Attribution“. Am TCDH leitet er das Projekt „Modernity as Loss?“. Wir freuen uns sehr über unser neues Teammitglied!
PD Dr. Benjamin Gittel

PD Dr. Benjamin Gittel

TCDH: Am Trier Center for Digital Humanities arbeiten Wissenschaftler:innen aus verschiedenen Bereichen zusammen: Kannst du uns mehr über deinen akademischen Hintergrund erzählen und warum du dich für die Digital Humanities und die Literaturwissenschaft interessierst?

Benjamin: Ich komme sehr kurz gesagt aus einer Tradition der Literaturwissenschaft, die bei aller Liebe zu den ästhetisch wertvollen Artefakten, mit denen wir täglich umgehen, den Anspruch der Wissenschaftlichkeit unterstreicht. Die ‚traditionelle Literaturwissenschaft‘ beansprucht, Begriffe und Kategorien zu entwickeln, mit denen sich grundsätzlich jeder literarische Text beschreiben lassen sollte, beschreibt jedoch aufgrund der großen Zahl existierender Texte de facto nur eine kleine Auswahl von ihnen. Mit den Digital Humanities, genauer mit den entstehenden Computational Literary Studies, verbinde ich die Aussicht, diese Einschränkung zumindest teilweise überwinden zu können. Dies birgt sowohl hinsichtlich der literaturwissenschaftlichen Begriffe als auch hinsichtlich unseres Wissens über die kulturelle Überlieferung ein großes Potenzial: Im Rahmen etwa einer digitalen Annotation, in der für jeden Einzelfall entschieden werden muss, ob ein bestimmtes Phänomen vorliegt, werden literaturwissenschaftliche Begriffe geschärft und die Entwicklung von Methoden zur automatischen Erkennung literarischer Phänomene wie Gattungen oder narratologischer Strukturen bietet die Möglichkeit, neue empirisch gesättigte Literaturgeschichten zu schreiben. Mit einem Satz eröffnen also die Digital Humanities der ‚traditionellen Literaturwissenschaft‘, die natürlich selbst eine ungemein vielfältige Denktradition darstellt, neue Möglichkeiten, die es besonders reizvoll machen, an der Schnittstelle beider Bereiche zu arbeiten.

TCDH: Was hat dich dazu bewogen, mit deiner Heisenberg-Stelle ans TCDH in Trier zu kommen? Hat dich etwas Besonderes am Forschungsstandort oder am Zentrum interessiert?

Benjamin: Das TCDH ist natürlich ein Leuchtturm im Bereich der Digital Humanities mit langer Tradition, der auch international sichtbar ist. Neben der langfristigen Perspektive, die mir das TCDH bot, war auch die Aussicht entscheidend, den Bereich der Computational Literary Studies hier aktiv mitgestalten zu können.

TCDH: Dein Forschungsprojekt „Modernity as Loss?“, das am TCDH angesiedelt ist, beschäftigt sich mit Textstrukturen, Varianten und Zyklen literarischer Kulturkritik. Kannst du uns mehr darüber erzählen? Was hat dich dazu inspiriert und welche Ziele verfolgst du damit?

Benjamin: Dabei handelt es sich um ein Projekt, das mir schon lange vorschwebte. Die Motivation ist ungefähr folgende: Moderne Gesellschaften sind durch kontinuierlichen Wandel in allen Bereichen gekennzeichnet. Dieser Wandel wird, obwohl er häufig im Zeichen des Fortschritts geschieht, jedoch von nicht wenigen Menschen als Verlust erlebt, interpretiert und zu bestimmten Narrativen verallgemeinert. Das dadurch gespeiste kultur- bzw. modernekritische Denken artikuliert sich nicht zuletzt in der Literatur als einem Medium generalisierter Erfahrung. Bislang kaum untersucht ist jedoch, welche Textstrukturen verschiedene Arten von Modernekritik (im weitesten Sinne) in fiktionalen literarischen Texten ausdrücken und wie sich dieses Phänomen literaturgeschichtlich darstellt. Sollte die im Rahmen des Projekts vorgesehene automatische Erkennung relevanter Textstrukturen erfolgreich sein, ließen sich zahlreiche spannende Fragen auf breiter empirischer Basis beantworten: Bringen tatsächlich gesellschaftliche Umbrüche Modernekritik hervor? Unterscheidet sich Modernekritik vor 1945 grundlegend von Modernekritik nach 1945? Ist kanonische Literatur modernekritischer als nicht-kanonische Literatur? Gibt es spezifische Formen linker und rechter literarischer Modernekritik? … um nur ein paar zu nennen. Aus literaturtheoretisch-narratologischer Perspektive liegt das Spannende des Projekts darin, dass es versucht, mit der Kultur- bzw. Modernekritik ein interpretationsabhängiges Makro-Phänomen auf Textstrukturen auf Mikro- und Meso-Ebene zurückzuführen, wozu neben quantitativen Analysen auch hermeneutisch-qualitative Analysen unabdingbar sind.

TCDH: Welche Korpora werden in deinem Projekt besonders untersucht oder miteinander verglichen, und warum hast du dich für diese entschieden?

Benjamin: In dem Projekt werden zwei Korpora erstellt, die aufeinander aufbauen: ein literaturwissenschaftliches Handbuchkorpus und eine Korpus deutschsprachiger fiktionaler Erzähltexte. Das erste Korpus besteht aus literaturwissenschaftlichen Handbüchern und Literaturgeschichten und dient dazu Zuschreibungen von Modernekritik und verwandten Phänomenen an konkrete literarische Werke zu identifizieren. Aus diesen Daten wird dann in einem zweiten Schritt eine Liste von Werken generiert, auf Basis derer das Erzähltextkorpus erstellt wird. Dieses Korpus umfasst verschiedene Subkorpora etwa zu Kulturkritik, Zeitkritik, Zivilisationskritik oder Heimatkunst. Daneben werden bestehende Korpora (etwa ELTeC-deu) für vergleichende und diachrone Analysen herangezogen.

TCDH: Welche Herausforderungen erwartest du bei der Durchführung dieses Projekts, insbesondere im Hinblick auf die Verbindung von Literaturwissenschaft und Digital Humanities?

Benjamin: Eine Herausforderung besteht darin, dass die narratologischen Phänomene, die in den Erzähltexten erfasst werden, wie zum Beispiel literarische Wertungen, sehr vielschichtig und kontextabhängig sind. Dies macht sowohl die Entwicklung von Richtlinien für die Annotation als auch die spätere automatische Erkennung zu einer schwierigen Aufgabe.  

TCDH: Gibt es in deiner Forschung und Arbeit am TCDH – und auch im genannten Projekt – konkrete Ereignisse oder Pläne, auf die du besonders gespannt bist?

Benjamin: Es wird zunächst einmal spannend sein zu sehen, inwieweit sich die verschiedenen narratologischen Phänomene zuverlässig intersubjektiv erkennen und annotieren lassen. Neugierig bin ich aber vor allem, inwiefern die Ausprägungen dieser narratologischen Phänomene mit den extrahierten globalen Zuschreibungen an die literarischen Texte korrelieren beziehungsweise ihre automatische Erkennung erlauben.

TCDH: Du bist bereits seit Oktober 2023 bei uns am TCDH. Kannst du schon etwas über deine bisherigen Erfahrungen am Zentrum berichten? Wie war dein erster Eindruck und hast du dich gut eingelebt?

Benjamin: Ja, ich denke schon, das interdisziplinäre Umfeld gefällt mir sehr. Das TCDH hat ein sehr nettes aufgeschlossenes Team, wo jeder ein offenes Ohr für die Probleme des Anderen hat, obwohl er natürlich selbst viel zu tun hat.

TCDH: Gibt es neben dem aktuellen Projekt noch weitere Forschungsinteressen, denen du gerne in Zukunft am TCDH nachgehen möchtest?

Benjamin: Da will ich lieber nicht zu viel verraten, ich habe so einige Ideen. Generell scheint mir aber die Literaturkritik und ihre Geschichte auch ein interessantes Feld, das sich zu beforschen lohnt.


Tags: Kulturkritik, Gattungstheorie, literarischer Wandel, Textstrukturen