Humboldt Fellowship
Liturgische Texte sind Ordnungsanweisungen zur Durchführung religiöser Riten, die ein wesentlicher Bestandteil des mittelalterlichen Lebens waren. Diese Texte verzeichnen und bestimmen die Worte und Handlungen, die während der Zeremonien gesprochen und ausgeführt wurden. Im Mittelalter wurden Texte für die Liturgie üblicherweise in bestimmten Arten von Manuskripten überliefert. Diese waren Eigentum und persönliche Schöpfung von Individuen, wie Bischöfe und Priester und von Gemeinschaften wie beispielsweise Klöster und Kirchen. Allen Personen war die Frage sehr wichtig, was Liturgie eigentlich bedeutete und wie sie korrekt auszuführen sei, und sie nutzten liturgische Manuskripte um ihre eigenen Ideen zu präsentieren und zu vertreten. Liturgische Manuskripte waren niemals einheitlich und tatsächlich griffen Kopisten und praktizierende Gläubige während des Abschreibens oft ein, um die rituellen Texte, die sie darin fanden, zu erklären, zu bearbeiten oder neu zu deuten. Dies bedeutet, dass jeder liturgische Text so viele verschiedene Formen haben kann wie Manuskripte existieren und auch so viele wie es Individuen gab, die ein Interesse an den Riten hatten. Darüber hinaus kann uns jede der Varianten, über die wir verfügen, etwas darüber sagen, wie konkrete Individuen und Gemeinschaften liturgische Riten verstanden und was sie beabsichtigten, damit auszudrücken.
Der Zugang zu diesem fruchtbaren Dialog, der die Liturgie umgibt, wurde durch Probleme bei der Bearbeitung der sich vielfach unterscheidenden Manuskriptvarianten erschwert. Verschiedene Manuskripte derselben Riten existieren nebeneinander in höchst unterschiedlichen Komplexitätsstufen, abhängig von der jeweiligen Absicht des dahinter stehenden Gedankens. Eine gedruckte Edition stößt auf Grund des hohen Variantenreichtums solcher Texte und dem mangelnden Raum für Vergleiche und Diskussionen schnell an ihre Grenzen. Tatsächlich leidet die traditionelle gedruckte Edition liturgischer Texte in hohem Maße, weil sie nur über ein beschränktes Potenzial zur Abbildung der Varianz verfügt, was bedeutet, dass die höchst interessanten Neuinterpretationen des Textes verloren gehen und ein falsches Bild einer vermeintlichen Einheitlichkeit präsentiert wird. Aus diesem Grund ist eine korrekte Untersuchung der Frage, wie und warum liturgische Texte von ihren Bearbeitern geändert wurden, anhand von Manuskriptbelegen bisher ausgeblieben. Das Projekt Digitale Techniken zur Präsentation liturgischer Texte und zum Aufbau einer Datenbank karolingischer Pontifikalien begegnet dieser Herausforderung mit digitalen Methoden.
Der Schwerpunkt des Projekts liegt derzeit auf den frühmittelalterlichen Riten der Ordination, den Riten, die stattfanden, wenn eine Person dem Klerus beitrat und solchen, die deren Aufstieg durch die Stufen der klerikalen Hierarchie begleiteten. Der Text, der diese Abfolge von Zeremonien beschreibt und dessen Begleitkommentar, der in vielen Manuskripten zu finden ist, wurde noch nicht ediert. Insbesondere für diesen Text möchte ich eine geeignete digitale Edition jedes Manuskriptbeleges zur Verfügung stellen, die den Vergleich zwischen Manuskripten erleichtern und es den Nutzern ermöglichen soll, die Absichten hinter den individuellen Eingriffen in die Texte nachzuvollziehen, wie auch relevante Übersetzungen und Informationen zu den Manuskriptquellen. Eine mögliche Ausdehnung auf weitere ,Pontifikalien‘ wie die Weihe von Kirchen würde einen umfassenderen Einblick in die Absichten ermöglichen, die kompletten Manuskripten zugrunde liegen und eine tiefergehende Untersuchung der Impulse zulassen, die mit der Produktion und Reproduktion liturgischer Texte verbunden sind.
Im derzeitigen Rahmen des Projektes wird dies die Auswahl eines ausreichenden Materialkorpus umfassen und dessen Bearbeitung mit Hilfe der vorhandenen Manuskripte. Die ,bischöflichen Amtshandlungen‘ sind liturgische Aktivitäten, die allein einem Bischof vorbehalten waren, inklusive die Weihe des Klerus und von Kirchen sowie das Segnen von Objekten und Personen. Auf Grundlage einer Auswahl von circa 40 Manuskripten, die im Verlauf des 9. und 10. Jahrhunderts produziert wurden, werden die Editionen der Texte zu diesen Funktionen mit umfassenden Metadaten angeboten. In jedem Fall bietet das einzelne Manuskript eine bestimmte Interpretation eines Kerns von Material, das ursprünglich in karolingischer Zeit hervorgebracht und verbreitet wurde.
Zusammenfassend ist es Ziel des Projektes, eine digitale wissenschaftliche Edition bestimmter liturgischer Texte aus einem ausgewählten Korpus von Manuskripten zu schaffen, vor dem Hintergrund, dass eine digitale Edition eine bessere Darstellung und Wiedergabe dieser zahlreichen verschiedenen Versionen ermöglichen wird. Eine solche Edition wird alle Manuskriptvarianten für die Überprüfung und Erforschung zur Verfügung stellen und es ermöglichen, bislang unentdeckte Beziehungen zwischen Manuskripten zu belegen und die vielen Beweggründe hinter der Bearbeitung liturgischer Texte zu präsentieren ohne dabei eine originale oder reine Form des Textes in den Mittelpunkt zu stellen. Mit dem Projekt wird eine höchst fruchtbare Forschung zu den Ursprüngen liturgischer Manuskripte und der Entwicklung von Riten, die eng mit Manuskriptbelegen verknüpft ist, aufgegriffen und fortgeführt. Es wird danach streben, eine Auswahl von Quellen, die mittelalterliche Meinungen und Geisteshaltungen nachhaltig formten und auf diese reagierten, breiter zugänglich zu machen.