Hanna McGaughey: Zeamis Traktate im Vergleich

 

 

Zeami (ca. 1363 bis ca. 1443) war Schauspieler (auch Sänger und Tänzer), Dichter, Librettist, Komponist, Schauspieltruppenleiter und Regisseur einer Aufführungskunst, die unter dem Namen Nō bekannt ist. Noch heute werden Stücke des Nō-Theaters, die traditionell nur von Männern gespielt wurden, von Mitgliedern traditionsreicher Schauspielhäuser aufgeführt. Obwohl Zeami aus der untersten Schicht der damaligen japanischen Gesellschaft stammte, spielte er für die Herrscherschicht, darunter vor allem einige Shogun des Ashikaga-Stamms. Darüber hinaus war Zeami auch Lehrer und Denker, der Reflexionen zu diversen Aspekten seiner Kunst in Traktaten niederschrieb. Diese Traktate beschreiben u. a., wie Spieler in jedem Lebensabschnitt trainieren sollen, wie diese männlichen Spieler Rollen aller Geschlechter, Schichten und geistigen Zuständen spielen sollen, wie sie bestimmte Gefühle und Eindrücke im Publikum hervorrufen können, wie in ihren Aufführungen Sprache, Musik und körperliche Bewegung zusammenpassen und wie sie Stücke schreiben sollen, die ihre Stärken zur Geltung bringen.

Nachkommen der Kanze- und Komparu-Häuser, Schauspieler-Familien die in erster Linie die Nō-Aufführungskunst von Generation zu Generation weiterleiteten, übermittelten Zeamis Traktate streng geheim in Form von Handschriften bis in die Gegenwart. Bis in die Meiji-Zeit (1868-1912) wurden sie nur handschriftlich und in begrenzter Anzahl vervielfacht. Erst 1908 wurden einige dieser Manuskripte in einem Antiquariat entdeckt und vom Wissenschaftler Yoshida Tōgo für ein breiteres Publikum herausgegeben. Es folgten bald Entdeckungen weiterer Handschriften und nicht viel später erschienen die Texte in kommentierten Editionen und Übersetzungen in europäische Sprachen. Somit wurden Europäer, die fasziniert von dieser ostasiatischen Theaterform waren, welche W.B. Yeats sehnsüchtig als aristokratische Kunst bezeichnete, mit Zeamis Traktaten vertraut, wie z. B. an Peter Brooks Wertschätzung von Zeamis Gedanken als Richtlinie zur Darstellung von im alltäglichen Leben unsichtbarer Gestalten zu sehen ist.

Doch die Übersetzungen zeigen sehr deutlich, dass Zeami bestimmte Wörter mehrdeutig einsetzte. Zum Beispiel spielt das Wort für Herz „kokoro 心“eine zentrale Rolle in Zeamis Denken. Ein Vergleich von vier Übersetzungen einer Textstelle ins Deutsche, Englische und Französische ergibt die Frage, ob das Wort „kokoro 心“ Herz, Gefühl, Verstand (engl. mind) oder Geist (franz. esprit) bedeuten soll. Andere Wörter, wie die elegante, mysteriöse, verlockende Schönheit „yūgen 幽玄“, oder die musikalische Dynamik „kakari かかり“, haben ähnlich breite Bedeutungsfelder. Verfasser neuer Ausgaben müssen sich entscheiden, ob unterschiedliche Schriftweisen, wie etwa „kakari かかり“ und „kakari oder ken 懸“, auch unterschiedliche Bedeutungen bezeichnen, wie sehr Zeamis Gebrauch von buddhistischen Termini, wie z. B. „Nicht-Herz mushin 無心“, von buddhistischen Erkenntnissen beeinflusst ist, oder ob er mit dem Kompositum für spielerische Musikalität „yūkyoku 遊曲“ auch eine elegante, schöne Musikalität „yūkyoku 幽曲“ einbeziehen wollte. Bislang verfügbare Register reichen nicht aus, um alle Wort- und Schriftzeicheninstanzen zu finden und vergleichen zu können.

Deshalb ist das Ziel des Projekts, eine Datenbank dieser Texte (Handschiften, Druckausgaben und Übersetzungen) zu erstellen. Da manche Texte urheberrechtlich geschützt sind, können sie nicht in ihrer Gesamtheit digital und im Open Access zur Verfügung gestellt werden. Sofern möglich, soll jedoch ein begrenzter Zugang auch zu diesen Texten durch eine elektronische Suchmaschine gewährleistet werden. Der Benutzer wird kollationierte Zitate aus unterschiedlichen Editionen der Texte, inklusive Handschriften, Druckausgaben und Übersetzungen, in Zusammenhang bringen, frei zugängliche Texte lesen, und genaue Quellen- und Seitenangaben für die Texte unter Urheberrecht erhalten können. Diese Suchergebnisse werden die bisherige Arbeit mit Registern ersetzen und verbessern. Der erste Schritt ist die Digitalisierung und Volltexterschließung eines Traktats als Grundlage. In einem weiteren Schritt sollen andere Druckausgaben, Handschriften, Kommentare und Übersetzungen kollationiert werden, um mögliche Deutungen von Zeamis kreativer Wortwahl deutlich werden zu lassen.